Der Fall
Nach einem dramatischen Wendepunkt muss K. erkennen, dass die Schatten der Vergangenheit zugleich Bedrohung und Chance für neuen Mut sein können.
Ein kalter Griff umschloss ihren Hals. Hektisch rang sie nach Luft und versuchte verzweifelt, sich aus der Umklammerung zu befreien, die sie zu Boden drückte. Ihre Lungen brannten wie Feuer, die leere Dunkelheit kroch über sie, verschlang alles um sie herum, und ihr Blick verschwamm. Nur einmal atmen… Mit einem letzten, verzweifelten Aufbäumen –
K. riss die Augen auf. Ihr Herz hämmerte wild, so laut, dass sie glaubte, jeder in ihrer Nähe müsste es hören. Für einen Moment lag sie reglos da, noch immer das Gefühl, eine unsichtbare Macht presse sie zu Boden. Dann stieg der vertraute Geruch ihrer Wohnung in ihre Nase und durchdrang langsam den Schleier der Panik. Regen prasselte gegen die Fenster, so kräftig, dass er jeden Gedanken übertönte und keine Stille zuließ. Durch das Glas der verregneten Fenster drang die Kälte in den Raum und ließ sie frösteln.
Es war nur ein Traum gewesen.
Ein Albtraum. Wie so oft.
Sie fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und blinzelte zum Fenster. Die Stadt lag grau und schwer unter der dunklen Regenfront, die sich wie ein Griff um die Stadt zog. Der Morgen fühlte sich an wie eine Verlängerung der Nacht, zäh und erdrückend. Ihr erster Gedanke war, einfach liegen zu bleiben – doch weder die Rechnungen noch ihre Probleme würden sich von selbst lösen. Und selbst in ihren Träumen war sie nicht sicher.
Schließlich zwang sie sich aufzustehen, strich sich die unordentlichen Haare aus dem Gesicht und wankte in Richtung Bad. Barfuß betrat sie den Raum, und die eisige Kälte des Bodens kroch wie der kalte Griff aus ihrem Traum an ihr hinauf. Es fühlte sich an, als wollten sogar die Fliesen das Wetter draußen widerspiegeln – kalt, grau und unnachgiebig. Sie hielt inne und verharrte kurz in Regungslosigkeit, ihre Gedanken taumelten. Zurück ins Bett, einfach die Decke über den Kopf ziehen, den Tag ignorieren? Es wäre so leicht gewesen. Doch es würde niemanden kümmern. Und genau dieser Gedanke drückte schwerer auf sie als die Kälte unter ihren Füßen.
Sie zuckte innerlich mit den Schultern und schob den Gedanken beiseite.
»Wenn ich schon wach bin, kann ich den Tag auch beginnen«, murmelte sie leise, als müsste sie sich selbst überzeugen. Mit einem kurzen Kopfschütteln, das mehr Routine als Entschlossenheit war, versuchte sie, das letzte Stück Trägheit des Traums von sich abzuschütteln.
Sie ging zur Toilette, verrichtete ihre Notdurft und griff nach dem kalten Wasser am Waschbecken. Das eiskalte Spritzen ins Gesicht ließ sie scharf einatmen – ein Moment des Wachseins, ein Moment des Fühlens. Es war nicht nur gegen die Müdigkeit. Es war gegen die Leere.
Mit langsamen Schritten verließ sie das Bad, griff nach der Zeitung, die wie jeden Morgen vor ihrer Tür lag. Sie fühlte sich schwer in ihrer Hand – oder war es nur ihre eigene Müdigkeit? Erst jetzt bemerkte sie den fahlen Geschmack in ihrem Mund, trocken und unangenehm. Ein Durst, der ihr plötzlich drängender erschien als alles andere. Es fühlte sich an, als würde ihr Körper mehr verlangen als nur Wasser – etwas, das sie nicht benennen konnte.
In der Küche setzte sie Wasser in ihrem viel zu kleinen Teekessel auf und stellte ihn auf den Herd. Das bläuliche Flackern der Gasflamme war das erste Warme und Farbenfrohe, das sie an diesem Tag sah – und fühlte. Ein Hauch von Leben in einer Welt, die sich so leblos anfühlte.
Während das Wasser langsam zu sieden begann, meldete sich ihr Magen mit einem mürrischen Knurren. Sie verdrehte die Augen und öffnete den winzigen Kühlschrank, um nach etwas Essbarem zu suchen. Ihre Hand blieb an einer halb vollen Sushi-Box hängen. Der Anblick brachte ein schwaches Lächeln auf ihre Lippen, das sie selbst überraschte. Es war einer dieser seltenen Tage gewesen, an denen sie alles vergessen hatte – zumindest für ein paar Stunden. Ein Tag mit N. Ein Tag, der sich nicht wie eine Last auf ihren Schultern angefühlt hatte.
Sie schnupperte prüfend an der Box, nickte zufrieden und nahm eine Rolle heraus. Der Geschmack war nicht mehr frisch, aber er war da – und das war genug. Während sie kaute, ließ sie ihren Blick aus dem Fenster schweifen, wo der Regen immer noch sein unermüdliches Spiel mit den Fensterscheiben trieb. Die Tropfen schienen zu tanzen, ein stilles Schauspiel, das sie für einen Moment in seinen Bann zog.
Doch das Pfeifen des Teekessels riss sie aus ihren Gedanken. Hastig goss sie das heiße Wasser über den losen schwarzen Tee, inhalierte den aufsteigenden Dampf und ließ die Wärme der Tasse in ihre kalten Hände dringen. Der erste Schluck war wie ein kleines Versprechen, dass der Tag vielleicht doch nicht ganz verloren war. Mit einer weiteren Sushirolle im Mund schlug sie die Zeitung auf. Als Detektivin musste sie schließlich wissen, was in der Welt vor sich ging.
Ein Gewerkschaftsaufstand erschütterte die Orkprovinzen, das Misstrauensvotum gegen Malvik, den umstrittenen Vertreter der Dorn, war gescheitert, und die Deamon Devils hatten überraschend die Finalrunde des Föderationscups verpasst. Alles wirkte so weit weg – als wäre sie selbst nur eine stille Beobachterin in einer Welt, die immer weiterlief, egal, was mit ihr geschah.
Die Schlagzeilen verschwammen in ihrem Kopf, und schließlich legte sie die Zeitung beiseite. Ihr Blick fiel auf das Telefon. Eine ungelesene Nachricht war seit Tagen dort. Sie öffnete sie: »Hey K., hast du Lust auf…« Sie hielt inne, lächelte schwach, doch das Gefühl der Scham schlich sich sofort ein. Tage waren vergangen, ohne dass sie geantwortet hatte – nicht, weil sie es vergessen hatte, sondern weil ihr einfach die Worte fehlten.
Trotzdem ließ N. nie locker. Seine Nachrichten waren immer da, wie kleine Lichter, die den Weg in ihrer Dunkelheit erhellten. Und doch … jedes Mal, wenn sie sich sahen, fühlte sie die Distanz zwischen ihnen – ein Abgrund, den sie selbst geschaffen hatte.
»So«, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zur Welt, »der Tag kann endlich anfangen.« Ein schwaches Lächeln zog über ihre Lippen, das ebenso schnell wieder verblasste. Sie trank den Tee aus, langsam, als würde sie versuchen, die Wärme in sich aufzunehmen. Doch als die Tasse leer war, blieb nur die Kälte. Sie seufzte, stand auf und machte sich auf den Weg ins Bad.
Das kalte Bad empfing sie erneut mit einer Stille, die fast greifbar war, als würde der Raum selbst den Atem anhalten – nur der Regen, der gegen die Fenster prasselte, ließ die Stille verblassen. Sie zog ihr Schlaf-T-Shirt aus, warf den Slip achtlos auf den Boden und trat unter die Dusche. Das heiße Wasser prasselte auf ihre Schultern und benetzte ihr Gesicht, doch die wohlige Wärme konnte ihr Inneres nicht erwärmen. Ihre Gedanken begannen, sich wie ein Sturm zu drehen, wirbelten von einem Fall zum nächsten, bevor sie bei E. Halt machten – und dort verharrten.
E. … Früher waren sie ein unschlagbares Team gewesen. Die Detektei lief gut, sehr gut sogar. Bis vor zwei Jahren. Die Schatten begannen leise, wie eine sich anbahnende Dämmerung, und wurden immer drängender, bis sie sich von der Nacht selbst nicht mehr unterscheiden ließen. Besonders D., der mysteriöse Chef der Unterwelt, hatte alles ins Wanken gebracht. Seine Schatten krochen über ihre Arbeit, über sie selbst, bis sie schließlich darin versank.
Dann hatte E. die Zusammenarbeit beendet. Seine Worte hallten noch immer in ihrem Kopf, scharf wie Klingen, die keine Wunden hinterließen, sondern Narben. Er hatte ihr vorgeworfen, sie steigere sich zu sehr in den Fall von D. hinein, behindere ihn und seine Fälle – dass sie mehr Last als Hilfe sei. Und dann war er gegangen – nicht nur aus der Detektei, sondern aus ihrem Leben.“
Diese Worte hallten immer wieder in ihrem Kopf nach – eine Wunde, die nicht heilen wollte, vielleicht nicht heilen konnte. Denn hinter ihnen steckte eine Wahrheit, vor der sie sich fürchtete: Vielleicht hatte E. recht. Vielleicht war sie tatsächlich nicht gut genug – gut genug für nichts.
Das heiße Wasser sprudelte aus dem Duschkopf und hätte ihr Schluchzen übertönen können. Doch wer genau hingehört hätte, hätte den Schmerz in ihrem leisen Weinen erkennen können. Ohne genaues Hinhören jedoch hätte man es genauso gut für das unablässige Trommeln des Regens halten können, der gegen die Fenster prasselte, als wollte er sie zerschlagen.
Der Regen verstärkte die eigentümliche Stille in der großen Wohnung. Eine Stille, die wie ein schwerer Mantel über allem lag – selbst über der Duschkabine. Nur ihre Seele wusste, dass sie weinte.
Sie öffnete die Duschkabine, und ihr nackter Körper wurde augenblicklich von der eisigen Kälte umfangen. Hastig hüllte sie sich in ein warmes, weiches Handtuch und trat zum Spiegel, der vom heißen Dampf völlig beschlagen war. Mit der Handfläche wischte sie ihn frei und versuchte, ihr Gesicht zu erkennen – doch das verschwommene Abbild, das ihr entgegenblickte, war das einer Fremden. Einer traurigen Fremden. Einen Moment lang betrachtete sie dieses trübe Spiegelbild und spürte, wie ein flüchtiger Anflug von Beklemmung in ihr aufstieg, bevor sie den Blick abwandte.
Mit einem leisen Seufzen griff sie zum Föhn, trocknete ihre wilden Haare und kämmte sie sorgfältig durch. Anschließend putzte sie sich die Zähne und wischte die verbliebenen Wassertropfen von ihrer Haut, bevor sie mit leichten Schritten zum Schrank tänzelte. Schnell schlüpfte sie in schlichte Unterwäsche, eine Hose und eine Bluse. Ihr Blick verweilte einen Moment an den Kleidern, die ungetragen an der Stange hingen – flüchtige Träume in Stoff, zu hell und ungezwungen für diesen grauen Tag.
»Bald wird es wieder eine Gelegenheit geben«, dachte sie sich und versuchte, daran zu glauben. Sehr bald sogar.
Mit diesem Gedanken zog sie ihrem dunkelgrünen Trenchcoat an. Er war schwer und schützend, ein kleiner Trost gegen die unbarmherzige Kälte draußen. Als Letztes setzte sie ihren schwarzen Fedora auf, richtete die Krempe mit einem kleinen Handgriff und atmete einmal tief durch.
Sie drückte die goldene Klinke der grünen Wohnungstür herunter und öffnete sie mit einem leisen Knarren. Der kalte Wind drang ihr sofort entgegen, wie ein vertrauter Feind, der nur darauf wartete, sie zu begrüßen. Als sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ, schnitt das Geräusch sie endgültig von der Wärme ihrer Wohnung ab. Mit festen Schritten ging sie die kleine Treppe hinunter und trat hinaus auf die regennasse Straße. Ihr Herz war schwer, doch sie war entschlossen, den Tag in Angriff zu nehmen.
Der Regen prasselte auf ihren Fedora und perlte nur zögerlich vom dunkelgrünen Trenchcoat ab. In raschen Schritten erreichte sie ihr altes, geliebtes Auto, öffnete die quietschende Fahrertür und ließ sich auf den Sitz fallen. Das Auto roch nach alten Erinnerungen und zerplatzten Träumen. Wehmütig nahm sie den Hut ab, legte ihn auf den Beifahrersitz und drehte den Schlüssel um. Erst beim zweiten Versuch sprang der Motor an. K. atmete einmal erleichtert auf, legte den ersten Gang ein und fuhr los.
Der Regen verstärkte sich, und die graue Stadt versank noch tiefer in einer undurchdringlichen Tristesse. K. schaltete das Radio ein, um dem Pochen ihrer Gedanken zu entkommen.
»… vor einem Jahr noch gänzlich unbekannt und seitdem nicht mehr aus den Charts wegzudenken … Er läutete eine neue Epoche der Mandolinen-Musik ein … sein Hit „Für die Eine“ hier auf 142.1 – das Radio für freie Völker und freie Geister.«
Die ersten zarten Töne der Mandoline trafen sie mitten ins Herz. Einen Augenblick lang sah sie nur noch Regentropfen, die sich wie silberne Fäden über die Scheibe zogen. Wie jedes Mal rührte sie das Lied zu Tränen – warum, wusste sie nicht genau. Manchmal fühlte es sich an, als wäre es nur für sie geschrieben worden. Für diesen Augenblick.
Die Tränen rannen ihr lautlos über die Wangen und vermischten sich mit den Tropfen auf der Scheibe. Ein Außen und ein Innen, das sich nicht voneinander unterscheiden ließ. Sie wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht, aber die Tränen fanden immer wieder ihren Weg. Die Mandoline spielte weiter, doch die Worte des Sängers lösten sich in ihrem inneren Sturm auf.
Unaufhörlich ergoss sich der Regen auf die bleiernen Häuserblocks, die wie stumme Riesen an ihr vorbeiglitten. K. lenkte das Fahrzeug durch die endlos graue Stadt, überholte ein paar gemächlich fahrende Elfen und verdrehte genervt die Augen. Für unsterbliche Wesen hatte Zeit wohl keine Bedeutung, dachte sie. Oder war für sie einfach alles langsam? Bei diesem Gedanken musste sie fast schmunzeln.
Manchmal, ja manchmal, träumte sie davon, einfach alles hinter sich zu lassen – mit einem umgebauten Wohnmobil durch ferne Provinzen zu streifen, wo keine grauen Straßen und keine kalten Fassaden sie erwarteten. Doch D. war noch immer da draußen, und sie wusste, dass sie nicht gehen konnte. Nein, dass sie es nicht gehen wollte. Denn wenn nicht sie, wer sollte ihm dann Einhalt gebieten?
Bei einer vertrauten Abzweigung bog sie in eine enge Seitenstraße ein und hielt vor einem alten Gebäude, dessen Fassade brüchig wirkte. Sie setzte den Hut wieder auf, lauschte einen Augenblick dem unverminderten Prasseln des Regens, dann stieg sie aus. Die Tropfen hüllten sie ein wie ein kalter, unangenehmer Mantel.
Noch einen Moment blieb sie stehen, ließ den Blick über das verwitterte Schild der Detektei schweifen und fragte sich flüchtig, wie lange sie diese graue Welt noch tragen konnte. Sie atmete tief durch, zog den Trenchcoat fester um sich und trat mit entschlossenen Schritten an die Eingangstür heran. In großen, goldenen Lettern prangte an dem Glas der Tür:
DETEKTEI
K. P. & ~ ~ ~ ~
Wir lösen jeden Fall
Früher einmal standen dort zwei Namen. Doch den ihres ehemaligen Partners hatte sie halbherzig abgekratzt – genauso halbherzig wie die Hoffnung, dass er eines Tages zurückkehren würde. Jetzt war selbst das „Wir“ im Slogan eine Lüge – und „… lösen jeden Fall“ fühlte sich nur noch wie ein verblasstes Versprechen ihres früheren Lebens an.
Diese Tür war nicht mehr der Eingang zu einer Detektei, sondern nur noch die Schwelle zu einem Raum voll Staub, Akten und geplatzter Träume. Sie wusste, dass sie den Slogan abkratzen müsste, wenn es so weiterging. Aber sie brachte es nicht über sich. Bis zuletzt hatte sie gehofft, er würde seine Meinung ändern.
»Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt«, murmelte sie und spürte, wie ein Tropfen ihre Wange hinabglitt. War es eine Träne oder nur ein kalter Regentropfen? Vielleicht machte das keinen Unterschied.
»Vielleicht …«, dachte sie, »… eines Tages wird dort wieder ein Name stehen. Ein anderer vielleicht. Aber es werden wieder zwei Namen sein – ganz sicher.« Sie lächelte schwach, ein kleiner Trost inmitten der Dunkelheit, und öffnete die Tür.
Drinnen zog sie den Trenchcoat aus, hängte ihn sorgsam auf, platzierte ihren Fedora daneben und ließ sich an ihrem alten Holzschreibtisch nieder. Ihr Blick verlor sich in den regennassen Scheiben, während ihre Gedanken in Tagträume abdrifteten. Mit einem Ruck schüttelte sie den Kopf, um sich zu sammeln. Sie musste anfangen. Das wusste sie. Doch wo?
K. stand auf, trat zu den imposanten Aktenschränken, die die Wände ihres Büros säumten, und öffnete wahllos eine Schublade nach der anderen. Ihre Hand glitt über die Akten, als würde sie in diesem Papierdschungel nach einem Funken Klarheit suchen.
»Über eintausend Fälle habe ich gelöst … eintausend«, flüsterte sie leise, beinahe ehrfürchtig.
Als sie die letzte Schublade öffnete, blieb ihr Blick an der dicksten Akte hängen. Sie griff nach ihr, und das Cover warf den Schatten eines Namens, den sie hasste und fürchtete: D. Es war ihr längster und schwerster Fall – der Fall, der sie alles gekostet hatte.
Langsam schloss sie den Aktenschrank und legte die Akte mit einem dumpfen Wumms auf ihren Schreibtisch. Das Geräusch schnitt kurz durch die unheimliche Stille, bevor das immer heftigere Prasseln des Regens gegen die Fenster wieder in ihr Bewusstsein kroch.
Sie ließ sich auf den Stuhl sinken und atmete tief durch. Ihr Blick fiel auf das grüne Notizbuch, das N. ihr geschenkt hatte, als wäre es ein stiller Zeuge all ihrer unausgesprochenen Gedanken. Zögernd schlug sie es auf und starrte auf die leeren Seiten. Die Worte erstarben in ihrem Kopf, bevor sie Gestalt annehmen konnten. Das Buch wirkte wie ein stummer Vorwurf: ein Zeichen dafür, dass sie nichts zu sagen hatte. Oder schlimmer noch: dass ihre Worte keine Bedeutung hätten. Sie hatte es bisher nicht über sich gebracht, die erste Seite zu füllen. Zugleich bedeutete das aber auch, dass alle Möglichkeiten noch offenstanden. Nur jetzt nicht. Jetzt fehlte ihr die Klarheit, die sie so schmerzlich suchte.
Mit einem leisen Seufzen klappte sie das Buch wieder zu und legte es vorsichtig beiseite. Vielleicht später. Vielleicht nie.
Das Notizbuch blieb geschlossen, wie so vieles in ihrem Leben. Aber die Akte … die Akte musste sie aufschlagen. Wenn sie D. nicht aufhalten konnte, dann würde niemand es tun. Und das durfte sie nicht zulassen.
Der Name „D.“ prangte auf der dicken Akte wie eine unauslöschliche Mahnung. In den letzten zwei Jahren war er ihr erst wirklich bewusst geworden – doch je tiefer sie in diesem Fall grub, desto deutlicher erkannte sie, dass sein Einfluss weit in ihre Vergangenheit hineinragte. Vielleicht hatte er sie sogar schon immer in der Hand, länger, als sie es je wahrhaben wollte.
Die Hinweise waren da gewesen, glasklar, wenn sie ehrlich war. Aber sie hatte weggesehen, D.s Netzwerk und Macht nicht an sich herangelassen. Nun war damit Schluss. Sie musste – nein, sie wollte ihn bekämpfen. Nicht besiegen, das wusste sie, dafür war er zu übermächtig, zu tief in den Strukturen dieser Stadt verwurzelt. Aber sie konnte ihn zurückdrängen, ihn daran hindern, weiter ihr Leben zu beherrschen.
Manchmal fragte sie sich, ob überhaupt noch ein Teil ihres Lebens unberührt von D. war. Ob selbst ihre Entscheidung, Detektivin zu werden, nur eine Reaktion auf das Gefühl der Ohnmacht war, das er in ihr hinterlassen hatte. Selbst hier, hinter diesen Mauern, in ihrem eigenen Büro, spürte sie sein Flüstern – ein leises, kriechendes Gefühl, dass er jeden ihrer Schritte kannte, ihre Gedanken las. Ein Zweifeln. Ein Zweifeln an ihr selbst. Es war keine Frage, ob er zuschlagen würde, sondern wann.
Ihr Telefon vibrierte, und sie warf einen kurzen Blick darauf. Eine Nachricht von N. – in der Vorschau stand nur ein einziges „Lächeln“. Unwillkürlich spürte sie, wie sich ihre Mundwinkel hoben. Es war, als hätte er ihr ein kleines Stück Leichtigkeit geschickt, ohne zu wissen, wie schwer ihre Welt gerade war.
N. war ebenfalls Detektiv, erst seit Kurzem Teil ihres Lebens. Er hatte sie in den letzten Monaten bei einigen Fällen unterstützt, mit einer Begeisterung, die sie zugleich bewunderte und irritierte. Besonders sein Wunsch, ihr im Kampf gegen D. zu helfen, schien ihr unbegreiflich. N. wollte für sie da sein – für sie, einen Menschen voller Dunkelheit, Leere und Tristesse. Jemanden, der sich manchmal so verloren fühlte, dass es körperlich schmerzte.
Doch er wusste nicht, worauf er sich einließ. Das konnte er nicht wissen. Früher oder später, da war sie sich sicher, würde er es bereuen. Und wenn er begriff, wie tief die Schatten reichten, würde er gehen, wie alle anderen vor ihm. Trotzdem tat er alles, um sie vom Gegenteil zu überzeugen – als wollte er mit jedem Lächeln und jeder Nachricht beweisen, dass sie eben nicht zu dunkel, nicht zu verloren war.
Vielleicht … vielleicht würde sie eines Tages ihre Meinung ändern. Vielleicht würde sie ihm irgendwann glauben können. Aber nicht jetzt. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie diese Gedanken abschütteln.
»Ich muss das hier erst mal alleine durchstehen«, sagte sie leise, fast wie ein Mantra. Es war auch das, was N. immer wieder sagte: Du bist stark genug, um das alleine durchzustehen. Und so sehr sie es ablehnte, fand sie es doch ein wenig tröstlich, dass er nicht lockerließ. Ein zartes Lächeln huschte über ihr Gesicht, bevor sie das Telefon auf ihren Schreibtisch legte.
Seite um Seite durchstöberte sie die Akte, auf der Suche nach Hinweisen, die sie in den letzten zwei Jahren übersehen haben könnte. Das Papier unter ihren Fingern fühlte sich alt und zerbrechlich an, manche Seiten wirkten, als wären sie fast so alt wie sie selbst. Je länger sie suchte, desto mehr schien sich eine eigentümliche Betäubung in ihr auszubreiten – nicht nur in ihrem Geist, sondern auch in ihren Fingerkuppen, die über die vergilbten Seiten glitten. Es war, als würde jede Faser ihres Körpers flehen, aufzuhören.
Sie wusste, dass sie diesen Fall wahrscheinlich niemals lösen würde. Wie sollte sie auch? D. war überall und doch nirgends. Aber irgendwo tief in ihr glomm noch ein Funken Hoffnung, kaum mehr als eine vage Erinnerung daran, dass es doch möglich sein könnte. Doch mit jedem vergehenden Tag schien dieser Funken kleiner zu werden, fast unsichtbar. Trotzdem durfte sie nicht aufhören – genauso wenig, wie der Regen aufhörte, der unermüdlich gegen die Fensterscheiben prasselte, als wollte er jede Faser dieser Stadt durchdringen.
Stunden vergingen. Sie blätterte durch Zeitungsartikel, Fotos, Polizeiberichte, Zeugenaussagen und Fragmente, die ein scheinbar unüberwindliches Chaos bildeten. Immer wieder stieß sie auf … nichts. Es war, als läge die Lösung direkt vor ihr, verborgen hinter einem Schleier, den sie nicht zu lüften vermochte. Ärger regte sich in ihr – nicht nur über die Akte, sondern vor allem über sich selbst. Sie hatte das Gefühl, irgendwo in diesem Stapel müsse ein entscheidendes Puzzleteil stecken.
Irgendwann wurde ihr Kopf so schwer, dass sie die Akte mit einem Seufzen beiseitelegte. Sie fühlte sich, als wäre sie bereits zum zweiten Mal an diesem Tag in einem Traum versunken – einem, der sie zu Boden drückte.
Sie beschloss, einen heißen Tee zu machen. Während das Wasser im Kessel langsam zu sieden begann, griff sie kurz zum Telefon. Ein leiser Stich durchfuhr sie; sie hatte ihm noch immer nicht geantwortet. Doch wie sollte sie es erklären? Wie sollte sie in Worte fassen, dass sie sich gerade wie im freien Fall fühlte, ohne Grund unter den Füßen?
»Dieser dumme Idiot …«, murmelte sie halbherzig. Ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. Immer wieder beteuerte er, dass er das aushalten würde, dass er für sie da war. Sie wusste, sie sollte sich freuen – doch sie hatte zu oft erlebt, wie Menschen gingen, sobald es zu dunkel wurde.
Der Kessel begann zu pfeifen, und sie goss das kochend heiße Wasser über den losen schwarzen Tee. Sie beobachtete die aufsteigenden Dampfschwaden, als wäre darin eine Antwort verborgen. Nur Stille. Nur Warten. Als der Tee schließlich trinkbar war, nahm sie mit beiden Händen die warme Tasse auf. Einen Moment lang genoss sie das Gefühl, etwas Greifbares zu haben, etwas, das Wärme versprach.
Sie schlürfte vorsichtig einen Schluck. Die Bitterkeit des Tees vermischte sich mit dem bitteren Beigeschmack ihrer eigenen Zweifel. Doch auch dieser Schluck bedeutete, dass sie weitermachte, Schritt für Schritt. Vielleicht würde sie jetzt N. antworten, vielleicht nicht. Jedenfalls noch nicht in diesem Augenblick.
Doch konnte es wirklich so einfach sein, sich einfach auf ihn zu stützen? K. schüttelte den Gedanken ab, genau wie die Zweifel, die sich wie dunkle Schatten an ihren Nacken hefteten. Es war zu viel, um sich jetzt mit N. auseinanderzusetzen. Vielleicht irgendwann. Vielleicht nie.
Mit der dampfenden Tasse Tee in der Hand kehrte sie schließlich an ihren Schreibtisch zurück. Die Akte lag vor ihr wie ein stummer Gegner, der darauf wartete, dass sie wieder loslegte. Sie atmete tief durch und griff erneut nach den vergilbten Seiten.
Sie erinnerte sich daran, wie D. in ihr Leben trat – wobei „trat“ zu laut, zu greifbar wäre. D. war keine Gestalt, die man erkennen oder ansprechen konnte. Er war ein Schatten, der langsam, beinahe zärtlich, über alles kroch. Eine unsichtbare Hand, die Fäden zog, bis man nicht mehr wusste, wo die eigene Freiheit endete und seine Macht begann.
Es begann in einer Zeit, in der sie ohnehin schon schwankte, als wäre der Boden unter ihr ein dünnes Seil über einem Abgrund. Der Druck der Arbeit erdrückte sie, die Tage verschmolzen zu einem einzigen grauen Rauschen. Und dann geschah es: ein Einbruch. Ein Überfall. Ein Verlust. Kontakte zerbrachen einer nach dem anderen wie alte Äste im Sturm. Nichts davon schien zusammenzuhängen – bis sie merkte, dass es das doch tat.
D. hatte seine Finger in allem, ohne dass sie ihn je zu Gesicht bekam. Die Stadt sprach von ihm, aber nur in Flüstern. Jeder, den sie um Hilfe bat, wich ihrem Blick aus. Ein Schweigen, so laut wie ein Schrei, das sie davon abhielt, weiter nachzufragen. D. war eine ungreifbare Macht. Eine Absicht ohne Gesicht. Und sie war sein Spielzeug.
Sie hatte sich selbst verloren, Stück für Stück. Das Leben, das sie geführt hatte, wurde zu einem Scherbenhaufen, auf dem sie stand, barfuß, ohne zu wissen, wie sie dort gelandet war. Sie fühlte sich leer, als hätte jemand einen Teil von ihr herausgerissen, den sie nicht benennen konnte.
Die Leere wuchs und zog sie hinab. Jeder Versuch, sich zu wehren, fühlte sich an, als würde sie nur tiefer in diese Dunkelheit greifen. Und manchmal – nur manchmal – fragte sie sich, ob es wirklich D. war, der sie zerbrochen hatte, oder ob sie sich selbst längst in diese Leere begeben hatte, ohne es zu merken.
In diesem Moment musste sie wieder an N. denken. An seine Worte, die sich wie ein kleiner Anker in ihrem Herzen festsetzten, egal wie oft sie versuchte, sie loszulassen. »Du bist stark genug, um dich selbst aus jeder Dunkelheit zu ziehen«, hatte er gesagt, mit dieser unerschütterlichen Überzeugung, die sie gleichzeitig bewunderte und nicht begreifen konnte.
Er glaubte an sie – daran, dass sie alleine und nur sie D. eines Tages bezwingen könnte. Dass sie ihm so viel Macht entreißen würde, dass er keine Bedrohung mehr für sie oder andere darstellen konnte. Doch K. konnte nicht nachvollziehen, woher er diese Gewissheit nahm. Was sah er in ihr, das sie selbst nicht sehen konnte?
Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, fast unbemerkt. Wie oft dachte sie in letzter Zeit an N.? Es war seltsam, beinahe beunruhigend. Aber in Momenten wie diesem, wenn die Dunkelheit sie fast verschluckte, schienen seine Worte wie ein kleines Licht – wie eine Kerze am Wegesrand, deren Feuer selbst den stärksten Sturm trotzte. Nicht groß genug, um sie zu retten, aber vielleicht groß genug, um sie einen Schritt weitergehen zu lassen.
Sie schlürfte ihren Tee und machte weiter mit der Akte. »Irgendwas muss hier sein«, dachte sie angestrengt. Die Stunden rannen dahin, der Regen trommelte gnadenlos weiter, und in ihr wuchs mit jeder verstrichenen Minute der Frust. Das Gefühl, keinen Millimeter voranzukommen – nein, immer wieder Schritte zurückzumachen – war beinahe unerträglich. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. Dicke Tropfen liefen über ihr Gesicht, und sie hatte das Gefühl, nichts mehr schaffen zu können. Nicht allein. Nicht in dieser Dunkelheit.
Plötzlich leuchtete ihr Telefon auf – eine weitere Nachricht von N. Er schrieb sonst nie so oft, aber heute schien er zu spüren, wie sehr die Leere sie wieder in ihren Bann zog. Sie seufzte tief und wischte sich die Tränen aus den Augen. Diesmal öffnete sie die Nachricht:
»Wenn es gerade bei dir dunkel ist, dann denke daran, dass wir gemeinsam durch die Dunkelheit schreiten.«
»Du Idiot«, schluchzte sie, und ein halb ersticktes Lachen drängte sich aus ihrer Kehle. Es war genau das, was sie jetzt brauchte. Er glaubte an sie. Er war da, wenn sie ihn brauchte.
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie wischte sich die letzten Tränen weg. Doch eine einzelne Träne blieb zurück, rann langsam ihre Wange hinab und tropfte schließlich von ihrem Kinn auf die Akte. Genervt griff sie nach einem Tuch, um den Fleck wegzuwischen, doch dann hielt sie inne.
»… Der Tatort befand sich in der Nähe des Lagerhaus Dromstein…« Sie kannte diesen Namen. Sie hatte ihn schon einmal gelesen.
Ein kalter Schauer durchlief sie, als ihr klar wurde, was sie da übersehen hatte. Hastig sprang sie auf, wühlte in der Schublade und zog eine große Stadtkarte hervor. Mit einer roten Stecknadel markierte sie den Standort des Lagerhauses und begann fieberhaft, die Akte nach weiteren Verbindungen zu durchsuchen. Gleich sieben weitere Einträge tauchten auf, alle hatten etwas mit diesem Lagerhaus zu tun.
»Warum hab ich das nie gesehen?« fragte sie sich atemlos.
Einer nach dem anderen setzte sie neue Stecknadeln. Bald ergab sich ein Muster, um das Lagerhaus herum bildeten sich immer mehr Verbindungen. Schließlich zählte sie zwanzig Stecknadeln – genug, um ein klares Zentrum des Geschehens zu erkennen. Das war also D.s Dreh- und Angelpunkt.
Ein Blick auf die Uhr ließ sie erschauern. 2:32 Uhr. Sie hatte völlig die Zeit vergessen. Die Stadt draußen schlief, oder lag zumindest in nächtlicher Starre, während sie hier kämpfte, wie in einem Labyrinth aus Hinweisen.
Zum Lagerhaus zu fahren wäre gefährlich, viel zu gefährlich, um es allein zu riskieren. Doch sie konnte nicht länger warten, nicht nach diesem Fund. Mit klopfendem Herzen griff sie nach dem Telefon, das noch auf dem Schreibtisch lag, und wählte N.s Nummer. »Ich brauche dich, N.«, dachte sie noch, bevor es klingelte.
»Ja?« meldete sich N., seine Stimme klang verschlafen, aber ruhig.
»Ich bin’s. Ich … ich brauche deine Hilfe… heute … also jetzt …«, sagte sie leise. Ihre Stimme zitterte, und sie schloss kurz die Augen, als könne sie so die Unsicherheit vertreiben.
Am anderen Ende herrschte einen Augenblick Stille, als ob er den Ernst der Lage erspürte. Dann: »K.?« Seine Stimme war jetzt wach und besorgt. »Was ist passiert? Geht es dir gut?«
»Lagerhaus Dromstein. Wolfsschlucht, Ecke Monro-Dexter-Straße.« Ihre Worte stolperten beinahe übereinander. »Ich … ich erkläre dir alles vor Ort.«
»Alles klar.« Er wirkte nun vollkommen da, wie ein Fels in der Brandung. »Gib mir …« – ein leises Rascheln – »… 30 Minuten.«
»Bis gleich. Und N.…« Sie hielt den Atem an. »Danke.«
Wieder Stille, doch diesmal fühlte sie sich näher an, als wäre ein unsichtbarer Faden zwischen ihnen gespannt. Dann: »K., ich werde da sein. Okay?«
Ein leises Kribbeln breitete sich in ihrem Brustkorb aus, ein Gefühl, das sie kaum zu benennen wusste. »Bis gleich.« flüsterte sie und legte auf.
Einen Augenblick verharrte sie still, das Telefon noch in ihrer Hand, während draußen der Regen nicht nachließ. Sie hörte in ihrem Inneren noch immer den Nachhall von N.s Stimme. Ihr Herz schlug wie ein Trommelwirbel, mitten in der Stille der Nacht. Und diesmal wusste sie, dass sie den nächsten Schritt nicht allein gehen würde.
Einen Augenblick lang schien K. wie erstarrt. Die Reglosigkeit überfiel sie, als würde eine schwere Last sie nach unten ziehen und an Ort und Stelle halten. Doch dann schüttelte sie die Starre ab, schnappte sich ihren Hut und Trenchcoat, schaltete das Licht in der Detektei aus und ging schnellen Schrittes hinaus. Sie schloss die Tür hinter sich ab, stieg in ihr Auto und fuhr los.
Der Regen hatte etwas nachgelassen, doch die Tropfen auf der Windschutzscheibe wirkten wie stille Boten einer endlosen Tristesse. Im Radio spielte leise Jazzmusik – melancholisch und getragen, als wolle sie die trostlose Stimmung der Stadt untermalen. Die fahlen Lichter der Straßenlaternen drangen kaum durch den dichten Schleier aus Regen. Nur die Musik schien in der Lage, den Regen für einen Augenblick zurückzuweichen.
Als K. in die Monroe-Dexter-Straße einbog, parkte sie das Auto in sicherer Entfernung zum Lagerhaus und begann ihre Observation. Das Gebäude erhob sich wie eine trutzige Festung aus einer anderen Zeit. Auf einem Hügel gelegen, mit einem Dach aus Glas, Holz und Stahl, wirkte es wie ein Überbleibsel des zweiten Eisernen Zeitalters – ein stummer Zeuge vergangener Stärke, der der Stadt zu trotzen schien.
K. kurbelte die Fahrerscheibe ein Stück hinunter, ließ die kühle, frische Luft herein. Einige Regentropfen fanden so ihren Weg ins Innere, doch sie bemerkte es kaum. Ihr Blick war starr auf das Lagerhaus gerichtet, als wäre es der Mittelpunkt ihrer Welt. Sie war zu aufgeregt, um irgendetwas anderes wahrzunehmen.
Ein plötzliches Klopfen an der Scheibe ließ sie zusammenzucken. Sie drehte sich hastig um und blickte in ein freundliches Gesicht. Es war N. Sie atmete tief durch und bedeutete ihm mit einem Handzeichen, einzusteigen.
Er öffnete die schwere Tür, ließ sich mit einem leisen Seufzen auf den Beifahrersitz nieder und schwieg. Der Regen klopfte unermüdlich auf das Dach des Autos und rann in dünnen Strömen über die Scheiben. Eine Zeit lang saßen sie einfach nur da, in einer Stille, die nur durch das leise Trommeln des Regens und die gedämpfte Jazzmusik durchbrochen wurde. Schließlich war es K., die das Schweigen brach.
»Danke, dass du gekommen bist, N. Ich hoffe, es ist nicht …«, begann sie zögerlich.
»Hör auf«, unterbrach er sie mit einem leisen, aber bestimmten Ton. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass das für mich kein Problem ist? Egal, was ist.«
»Ja, ich weiß, aber …«, setzte sie an, doch er ließ sie nicht ausreden.
»Ich meine das ernst, K., und das weißt du«, sagte er, seine Stimme nun etwas weicher.
K. wusste es, doch sie wollte es nicht wahrhaben, weil sie seine Intentionen immer noch nicht verstand. N. hatte ebenfalls einmal seine Partnerin verloren – auf eine Art, die alles unwiderruflich gemacht hatte. Manchmal fragte sie sich, was das für ein Gefühl gewesen sein musste, diesen endgültigen Bruch zu erleben. Nicht durch Worte oder Streit, sondern durch etwas, das man nicht ändern konnte. Sie wollte sich nicht ausmalen, wie es für ihn gewesen war – und doch drängte sich der Gedanke manchmal auf.
Warum machte N. das alles? Warum war er so nett zu ihr, obwohl sie sicher war, dass sie es nicht verdiente? Sie hielt sich für einen Menschen, den niemand lange ertragen konnte. Früher oder später würde auch er das erkennen und sie verlassen. Das war okay, redete sie sich ein. Wirklich okay. Aber der Gedanke hinterließ eine Leere, die sie nicht erklären konnte. Denn irgendwie tat N. ihr gut. Vielleicht sogar mehr, als sie zugeben wollte. Doch genau deswegen wollte sie ihn nicht belasten – und tat es trotzdem, immer wieder.
Manchmal fragte sie sich, ob er in ihr eine Chance sah, etwas wiedergutzumachen, das längst vergangen war. Ob er glaubte, sie retten zu können, um das zu verhindern, was einst geschehen war? Aber das war etwas, das sie niemals aussprechen würde – vor allem nicht ihm gegenüber. Was, wenn es stimmte? Was, wenn sie wirklich nur ein Ersatz war?
K. schüttelte leicht den Kopf, als wolle sie die aufkeimenden Gedanken abschütteln, doch nur ein paar Strähnen ihrer Haare gerieten dabei in Bewegung. Sie verstand einfach nicht, was er in ihr sah. Warum sie für ihn wichtig sein sollte.
»Warum sind wir hier?« fragte N. schließlich und riss sie aus ihren Überlegungen. K. zuckte leicht zusammen und bemerkte, dass sie reglos dagesessen hatte – vielleicht schon seit Minuten. Für N. musste das ein seltsames Bild gewesen sein, doch er hakte nicht nach, wartete nur geduldig auf ihre Antwort.
»Ich habe eine Spur zu D.« Ihre Stimme war leise, beinahe zögerlich, als sie auf das Lagerhaus deutete, das sich im Dunkeln auf dem kleinen Hügel abzeichnete. Der Augenblick, in dem sie die Worte aussprach, ließ eine Welle der Unsicherheit in ihr aufsteigen. Was würde N. denken? D. war immer ein Thema zwischen ihnen, immer eine unheimliche Präsenz. Sie wollte ihn nicht damit nerven, ihn nicht vergraulen – doch vielleicht war es längst zu spät. Immerhin war er mitten in der Nacht hergekommen, ohne zu wissen, worum es ging, ohne irgendwelche Informationen.
Um diese Zeit schliefen die meisten Wesen in der Stadt – zumindest die Tagesaktiven. Landrana vielleicht ausgenommen: Die brauchten kaum Schlaf, höchstens eine Stunde, wenn überhaupt. K. schnaubte leise. N. war kein schlafloser Landraner, aber er war trotzdem hier. Ohne Zögern. Ohne eine einzige Frage.
»Alles klar«, sagte er. »Wie wollen wir vorgehen, K.?«
Sie blinzelte überrascht. N. war bereit, ohne Zögern zu handeln. Viele andere hätten sie für verrückt erklärt oder ihre Spur zumindest infrage gestellt – doch er nicht.
»Weiter observieren …«, antwortete sie mit fester Stimme.
N. nickte nur, ohne ein weiteres Wort. Ein leichtes Grinsen huschte über K.s Gesicht, bevor sie sich wieder auf das Lagerhaus konzentrierte. Der Regen trommelte unaufhörlich auf das Dach und lief in schimmernden Bahnen über die Scheiben. Die melancholische Jazzmusik aus dem Radio schien die Stimmung noch dunkler zu färben.
Im Lagerhaus brannte kein Licht. Keine Bewegung, kein Zeichen von Leben. »Vielleicht ein unterirdischer Tunnel?«, dachte K. und runzelte die Stirn.
Nach einer Weile durchbrach N. die Stille. »Lass uns reingehen.««
K. drehte sich zu ihm. »Bist du sicher?««
Er schnaubte leise, ein kurzes, trockenes Lachen. »Nein, absolut nicht. Es ist dein Fall. Du entscheidest – aber ich denke, wir sollten es wagen. Draußen passiert nichts, und wenn du sagst, dass dort etwas vorgeht, dann geht dort vermutlich etwas vor – auch wenn es am Ende nur eine krude Sexparty ist.«
K. konnte nicht anders, als zu lachen. Es war ein unerwarteter Ausbruch, kurz und leise, aber ehrlich. Der Moment war absurd, und gerade deshalb hatte sie ihn gebraucht.
K. öffnete die Tür vorsichtig, setzte ihren Fedora auf und nickte N. zu. Er tat es ihr gleich. Der unaufhörliche Regen erzählte seine eigene Geschichte, während sie sich langsam der Lagerhalle auf dem kleinen Hügel näherten. Das metallische Klirren jedes Regentropfens auf Blechdach und Mauerwerk umhüllte sie wie ein unheilvolles Flüstern. Die beiden durchnässten Gestalten schlichen zu der Mauer, die das Gelände umgab. N. verschränkte die Hände zu einer Räuberleiter, um K. hinaufzuhelfen. Oben spürte sie den kalten, rauen Stein unter ihren Fingern – er schien von Geschichten vergangener Zeiten durchdrungen. Als sie N. die Hand reichte, nahm er sie ohne Zögern. Mit einer ihr selbst überraschenden Kraft zog sie ihn nach oben. Ein kurzes, wortloses Lächeln huschte über ihre Gesichter, dann sprangen sie hinab und huschten geduckt in Richtung der Halle.
K. schlich zu einem verdreckten Fenster und spähte hinein. Endlose Reihen von Holzkisten erstreckten sich im dämmrigen Licht. Ihre müden Augen suchten vergeblich nach einem Hinweis. Natürlich war nichts Auffälliges zu sehen. Warum sollte sich D.s Operationsbasis so leicht offenbaren? Sie nickte N. zu, und sie setzten ihre Erkundung fort – ihre Schritte so leise wie der Regen selbst, der unablässig auf die Pfützen unter ihren Füßen fiel.
Schließlich entdeckten sie eine verschlossene Tür. K. zog ein Bündel Dietriche aus einer der vielen Taschen ihres Trenchcoats. Das Schloss war komplex, doch nach einigen angespannten Sekunden hörte sie das vertraute Klicken, und die Tür gab leise nach. Ein kaum wahrnehmbarer Luftzug strich ihnen entgegen – es roch nach feuchtem Holz und altem Staub, obwohl der Raum scheinbar klinisch sauber war. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie in die Dunkelheit schlich. N. folgte dicht hinter ihr.
»Siehst du das?« flüsterte K. und deutete auf den Boden.
N. schüttelte verwirrt den Kopf.
»Kein Staub«, flüsterte sie, mehr zu sich selbst. Ein Tropfen Regen löste sich von ihrem Mantel und fiel mit einem leisen Plopp auf den staubfreien Boden. Es war, als hätte jemand diesen Raum erst kürzlich gereinigt, und doch lag eine beklemmende Stille in der Luft – eine, die alles andere als rein wirkte. N. nickte nur, und sie setzten ihre Suche fort.
Die Halle wirkte verlassen, doch die Kisten waren merkwürdig. Jedes Etikett trug Namen und Adressen von Personen oder Organisationen, die sofort ihre Aufmerksamkeit erregten – alles Menschen von öffentlichem Interesse. K. und N. tauschten einen fragenden Blick, wagten es jedoch nicht, eine der Kisten zu öffnen. Der bloße Gedanke, zu laut zu sein und entdeckt zu werden, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren.
Plötzlich knackte irgendwo in der Dunkelheit ein morscher Balken, und K. zuckte unwillkürlich zusammen. Das Geräusch hallte zwischen den Kisten wider, bevor es in der feuchten Stille verstarb. Ihr Herz klopfte schneller, als sie N. einen kurzen, fragenden Blick zuwarf. Doch er zuckte nur mit den Schultern und bedeutete ihr, weiterzugehen.
Die angrenzenden Büroräume erzählten eine ähnliche Geschichte: Alles wirkte verlassen, doch jedes Detail war verstörend ordentlich – kein Krümel auf dem Boden, kein Papierfetzen, kein Anzeichen dafür, dass hier seit Jahren jemand gewesen war. Es war, als hätte jemand akribisch jede Spur von Leben ausgelöscht.
Schließlich kehrten sie in die Haupthalle zurück.
Im Zentrum des Raumes stand ein einsamer Tisch mit einer Lampe, die im Wind schwankte. Die Dachluke darüber war offen, und der Regen fiel in einem dünnen Strahl auf das Holz. Jeder Tropfen, der auftraf, klang wie ein Schlag in der Stille – seltsam gedämpft, als ob die unzähligen Kisten ringsum den Schall in sich verschluckten.
K. hielt den Atem an, ihre Augen fixierten den Tisch. Ein kaum merkliches Geräusch verlieh ihr eine Gänsehaut. Ein ekelhaftes Kratzen, vielleicht ein lockerer Fensterflügel oder irgendein Mechanismus unter den Kisten, ließ ihr Blut für einen Augenblick gefrieren. Irgendetwas stimmte hier nicht.
»Das ist eine Falle«, dachte sie. Der Gedanke durchzuckte sie wie ein Alarm, doch sie schwieg. Stattdessen warf sie N. einen vielsagenden Blick zu.
Ein stummer Pakt wurde zwischen ihnen geschlossen. Beide wussten, dass es jetzt kein Zurück mehr gab.
Die seltsame Szenerie raubte den beiden Detektiven den Atem. Am großen Holztisch saß eine dunkle Gestalt, und K. wusste auf den ersten Blick, dass es D. war. Äußerlich war nichts Außergewöhnliches an ihm – er hätte jedes beliebige humanoide Wesen sein können. Doch K. erkannte mehr. Sie sah hinter die Fassade, hinter die scheinbar unauffällige Verkleidung. Sie sah, was D. in Wahrheit war: ein Monstrum. Kein Monstrum aus Fleisch und Blut, sondern eines aus Leere.
Diese Leere strömte aus ihm heraus, ein unheimlicher Sog, der sie beinahe magisch anzog. K. spürte, wie ihre Knie weich wurden, wie ihr Geist zu taumeln begann, doch sie widerstand diesem Ruf. Widerstand dem endlosen Abgrund, der sich vor ihr auftat. Denn in diesem Moment begriff sie, dass es nicht nur D. war, der dort saß. Er war ein Teil von ihr – der Schatten hinter ihren Ängsten, ihren Selbstzweifeln, ihrem Hass auf sich selbst. Die Lethargie, die sie lähmte, die Sinnlosigkeit, die sie zu verschlingen drohte – all das war ein Echo dieser Leere, die D. in sich trug.
Ein sanfter Druck an ihrer Hand riss sie aus der Starre. N.s Griff war warm und fest, umschloss sie wie ein rettender Anker. K. spürte die Wärme, die in ihren Körper strömte. Eine kleine Träne bildete sich in ihrem Augenwinkel, rann langsam über ihre Wange und fiel schließlich zu Boden. Doch diesmal war es keine Träne der Trauer.
Es war eine Träne der Erkenntnis. Der Erkenntnis, dass sie nicht allein war. Dass jemand an ihrer Seite stand, selbst wenn sie tief in den Abgrund blickte. Selbst wenn sie direkt vor D. stand.
Und in diesem Augenblick war das Gefühl, nicht allein zu sein, auf seltsame Weise schön.
»Wie lange wollt ihr beiden dort noch stehen?« erklang eine düstere Stimme, gefolgt von einem spöttischen Lachen, das wie ein kalter Dolch durch die Stille schnitt. Ein Schauder kroch K. über den Rücken, zog sich ihren Nacken hinauf und schien in ihrem Kopf widerzuhallen. Das hämische Lachen verstummte, und die Stimme fuhr fort: »Ich hatte schon damit gerechnet, dass du auftauchst, K. Aber ich bin überrascht, wie schnell du hier bist … und dass du jemanden mitgebracht hast.«
Die Gestalt am Tisch richtete sich langsam auf, ihre Bewegungen so träge und kontrolliert, dass sie wie ein Schatten wirkte, der sich aus der Dunkelheit schälte. »Ah, lass mich raten. Das muss N. sein, nicht wahr?« D.s Stimme wurde noch kälter, fast beiläufig, doch die Worte trafen wie Peitschenhiebe. »Reicht es dir nicht, dass ich dir schon deine erste Partnerin genommen habe N.?«
K. fühlte das Beben, das durch N. ging, als ob die Worte ihn körperlich getroffen hätten. Seine Hand, die eben noch ruhig die ihre umschlossen hatte, zitterte leicht. Sie spürte die Anspannung, den Schmerz, den diese Worte auslösten – eine Erinnerung, die er tief vergraben hatte, die nun mit brutaler Gewalt an die Oberfläche gezerrt wurde.
»D. …«, flüsterte N. kaum hörbar, doch K. drückte seine Hand fester, ein stummes Zeichen, dass er sich nicht provozieren lassen sollte. »Lass dich nicht auf seine Spiele ein«, dachte sie, auch wenn sie selbst mit dem Gewicht dieser Worte kämpfte.
D. lachte laut, ein verzerrtes, fast unmenschliches Lachen, das sie beide zu verhöhnen schien. »Ach, N., ich hoffe, du bist bereit, das Spiel von vorn zu beginnen. Es wäre doch schade, wenn K. auch dich verliert, nicht wahr? Wenn sie ebenfalls das durchmachen muss, was du durchmachen musstest. All diesen Schmerzen. Ohne je die Antwort zu kennen.«
Die Gestalt am Tisch bewegte sich kaum, doch ihre Präsenz schien die Luft im Raum schwerer zu machen. »Schade, dass du meine Pläne durchkreuzt hast«, fuhr D. fort; seine Stimme triefte vor gespieltem Bedauern. »Aber auch nur eine kleine Störung - nichts weiter« fuhr er fort. Er hielt kurz inne, als würde er auf eine Erwiderung warten, doch K. schwieg. »Nicht einmal ein Wort für mich?«, fragte er spöttisch und lehnte sich leicht vor. »Nun, es spielt keine Rolle. Du wirst mich nicht aufhalten, K. Egal, was du versuchst. Du wirst scheitern – so wie immer. Warum gibst du nicht einfach auf, du wertloses Stück Dreck?«
D. erhob sich langsam, und sein Schatten schien sich über den Raum auszudehnen. Dann konnte K. sein Gesicht sehen – es war nur Grinsen, ein verzerrtes, unnatürliches Lächeln, das sich in ihr Bewusstsein brannte. Sie spürte, wie ihre Hand instinktiv N.s fester drückte, und als er zurückdrückte, beruhigte sich ihr Atem ein wenig.
Dennoch spürte sie das Gewicht von D.s Worten, das sich in ihr festsetzte wie ein dunkler Schleier. Es war nicht nur das, was er sagte, sondern wie er es tat – als würde er in die Tiefen ihrer Seele greifen und an den Narben rühren, die niemand sonst sehen konnte.
»Du wirst mich nicht brechen«, flüsterte sie schließlich, mehr zu sich selbst als zu ihm, während sie ihren Blick fest auf das verzerrte Grinsen richtete.
D.s Lachen brach die Stille. »Du musst schon lauter reden, wenn ich dich hören soll, K.«, verhöhnte er sie, seine Stimme tropfte vor Spott. »Aber ja, das ist so typisch – dir fehlt die Kraft für die kleinsten Dinge im Leben. Und warum? Weil ich sie dir genommen habe. Alles, was du warst, alles, was du hättest sein können – ich habe es mir geholt und du weißt nicht mal warum.«
K.s Atem wurde schneller. Ihre Gedanken wirbelten wie ein Sturm durch ihren Kopf, jedes seiner Worte ein weiterer Windstoß, der sie zu Fall bringen wollte. Doch dann … spürte sie N.s Nähe. Seine Präsenz, ruhig und beständig, war wie ein Leuchtturm inmitten des tobenden Chaos – obwohl sie wusste, dass auch er wankte. Der Sturm in ihr begann abzuflauen. Sie fühlte den Boden unter ihren Füßen, die Festigkeit, die sie suchte, und plötzlich war da eine Klarheit, die sie lange nicht gespürt hatte.
Mit aller Kraft zog sie Luft in ihre Lungen, ihre Hände ballten sich zu Fäusten.
»DU WIRST MICH NICHT BRECHEN!« schrie sie, ihre Stimme durchbrach die Dunkelheit wie ein Blitz, stark und unerschütterlich.
»NIEMALS!«
Selbst D. schien davon überrascht. Sein Körper zuckte unmerklich zurück, und für einen winzigen Moment wich das hämische Grinsen aus seinem Gesicht. Doch dann fing er sich wieder, ein kaltes, verzerrtes Lächeln kehrte zurück.
»Interessant«, sagte er leise. »Interessant.«
Es klang fast bewundernd.
»Aber Mut, K., ist keine Waffe, die mich besiegen kann. Deine Worte sind nichts als laues Lüftchen, das in meiner unendlichen Leere verhallt.«
K.s Atem wurde ruhiger, doch ihre Augen blieben fest auf D. gerichtet. Die Dunkelheit um ihn schien dichter zu werden, als ob sie auf seinen nächsten Schritt wartete. Sein verzerrtes Lächeln war da, ja, aber es war anders. Es hatte sich verändert – ein Hauch von Unsicherheit mischte sich in die Arroganz.
»Mut allein mag vielleicht keine Waffe sein«, sagte sie, ihre Stimme jetzt leise, aber voller Überzeugung.
»Aber es ist ein Anfang. Und ein Anfang ist alles, was ich brauche.«
Sie spürte N.s Blick auf sich, seine stille Unterstützung, die wie eine unsichtbare Hand ihren Rücken stärkte.
D. neigte den Kopf leicht zur Seite, als würde er sie abschätzen.
»Ein Anfang, K.?«
Er lachte, ein dunkles, höhnisches Lachen, das die Luft im Raum schwer machte.
»Du glaubst wirklich, dass ein Anfang reicht, um jemanden wie mich - WIE MICH - zu Fall zu bringen? Deine Kämpfe, deine kleinen Siege – sie sind bedeutungslos. Du bist bedeutungslos. Und du weißt das.«
Doch diesmal drang seine Stimme nicht zu ihr durch, nicht so wie zuvor. K. spürte eine neue Stärke in sich aufsteigen, eine, die sich wie warme Flammen durch die Kälte der Leere fraß. Sie atmete tief ein und trat einen Schritt nach vorne.
»Vielleicht reicht es nicht aus, dich zu besiegen. Vielleicht werde ich scheitern. Aber was ich nicht tun werde, D., ist aufzugeben. Und das ist mehr, als du jemals verstehen wirst.«
Die Worte hingen einen Moment in der Luft, als ob selbst der Raum innehielt, bevor D. antwortete. Sein Grinsen blieb, aber es war angespannter, seine Haltung starrer.
»Wir werden sehen, K.«
Seine Stimme war leiser geworden, fast ein Flüstern, das durch die Halle wehte.
»Wir werden sehen.«
Der Regen schlug gegen das Dach der Lagerhalle, das unaufhörliche Prasseln eine ständige Erinnerung an die Außenwelt – an die, die noch wartete, an die, die sie zu beschützen geschworen hatte. K. wusste, dass der Kampf noch lange nicht vorbei war. Aber in diesem Moment hatte sie nicht nur D. widerstanden. Sie hatte auch sich selbst bewiesen, dass sie es konnte. Und das war genug. Für jetzt.
»Mir wird langweilig«, seufzte er gekünstelt. »Nun denn, darf ich mich empfehlen? Ich wünsche euch ein Leben voller Angst und Selbstzweifel«, höhnte D., sein Grinsen wie ein schiefer Mond im flackernden Licht der Lampe. Er griff in die Dunkelheit hinter sich, und plötzlich hoben seine Beine vom Boden ab.
K. erstarrte, dann dämmerte es ihr.
»Ein Seilzug – verdammt!«
Sie und N. rannten los, ihre Schritte hallten in der verlassenen Halle, doch sie waren zu langsam. D.s hämisches Lachen erfüllte den Raum, als er in die Höhe gezogen wurde.
»Du wirst mich nie besiegen!« schrie er, seine Stimme ein Echo aus Spott und Triumph.
Mit einer lässigen Handbewegung deutete D. auf die Kisten.
»Lebewohl, K.« fügte er mit einem hämischen Grinsen hinzu.
Die Explosion traf K. und N. wie ein Schlag. Ein greller Lichtblitz flammte auf, gefolgt von einer ohrenbetäubenden Druckwelle, die sie von den Beinen riss und durch die Halle schleuderte. Splitterndes Holz und fliegende Trümmer erfüllten die Luft, während rasend schnell Flammen züngelten und an den Holzkisten emporstiegen. Die Halle verwandelte sich innerhalb von Sekunden in ein flammendes Inferno.
K. stöhnte auf, ein Stechen fuhr durch ihren linken Oberschenkel. Ihr Kopf pochte, als hätte jemand sie mit einem Hammer getroffen. Benommen hob sie den Blick und sah, dass N. nur wenige Schritte entfernt am Boden lag – atemlos und reglos. Sie spürte, wie warmes Blut an ihrer Schläfe hinablief und die Welt um sie her für einen Augenblick verschwamm.
Sie wusste nicht, ob oder wie lange sie bewusstlos gewesen war. Doch das Nächste, was sie tat, war aufzustehen und zu N. hinüberzutorkeln. Jeder Schritt fühlte sich an, als würden Messer ihre Muskeln durchbohren, doch sie ignorierte den Schmerz.
N. lag noch immer da, die Augen geschlossen. K.s Herz setzte einen Schlag aus, als sie ihn vorsichtig umdrehte. Eine Träne rann ihr Gesicht hinunter und fiel auf seine Wange. Da öffnete er hustend die Augen und sah sie verwirrt an.
Er blickte sich kurz um, und als er die Situation realisierte, sagte er mit rauer Stimme: »Mir geht es gut, K.«, bevor ihn ein erneuter Hustenanfall schüttelte. Sie nahm seine Hand und drückte sie. Er erwiderte den Druck, und in seinem Blick lag etwas Beruhigendes, das ihr versicherte, dass er wirklich lebte, wirklich bei ihr war.
Ein Funken Erleichterung durchflutete sie, doch das Zischen der Flammen ringsum mahnte sie, dass hier keine Zeit zum Ausruhen blieb. Sie ließ N. langsam los und wandte sich dem großen Holztisch in der Mitte der Halle zu. Ihr Bein protestierte schmerzlich, aber sie biss die Zähne zusammen und rannte tapfer weiter. Sie musste irgendetwas finden, irgendetwas, das D. zurückgelassen hatte – und sei es nur ein letzter Hinweis, damit das alles nicht umsonst gewesen war.
K. blickte sich panisch um, ihre Augen suchten fieberhaft nach einem Hinweis – irgendetwas, das D. zurückgelassen hatte. Hustend tasteten ihre Hände über die Oberfläche, doch da war nichts.
»Verdammt!« schrie sie, ihre Stimme brach fast. Ein heftiger Hustenanfall raubte ihr den letzten Atemzug. »Das alles darf nicht umsonst gewesen sein!«
N., der inzwischen ebenfalls aufgestanden war, packte sie an der Schulter, seine Stimme überschlug sich vor Dringlichkeit.
»K., wir müssen hier raus! Jetzt! Sonst war es das – für uns beide!«
K. verzog das Gesicht, ihr Bein pochte schmerzlich, und Tränen traten in ihre Augen. Mit bebender Stimme schrie sie ihn an:
»Es darf nicht umsonst gewesen sein – das darf es einfach nicht!«
N. blickte sie mit Unverständnis an, warf einen raschen Blick auf ihre Verletzungen und auf den rasenden Brand um sie herum.
»Umsonst? Du hast gesehen, dass du D. schlagen kannst. Das war heute ein Sieg, K. – dein Sieg!«
K. wollte widersprechen, doch in ihrem Inneren wusste sie, dass er recht hatte. Ein Funke von Klarheit ließ sie realisieren, dass das Feuer bereits lodernd um sie herum wütete und die Zeit drängte. Funkenregen tanzte um sie, und brennende Balken krachten krachend vor ihren Füßen zu Boden. Der beißende Geruch von Rauch brannte in ihren Lungen. Sie hustete erneut und rannte dann los, zog N. hinter sich her.
Die Hitze wurde unerträglich, die Luft dicker mit jedem Atemzug. Ihre durchnässte Kleidung war durch die unsagbare Hitze längst getrocknet und begann nun, sich unangenehm heiß auf ihrer Haut anzufühlen. Jeder Schritt schmerzte, doch sie zwang sich weiter, ihre Hand um N.s Arm gekrallt, um ihn mitzuziehen.
Endlich erreichten sie die Ausgangstür – doch das Metall hatte sich unter der Hitze verzogen. Ihre Hände glitten an der glühenden Oberfläche ab, der Griff brannte in ihren Handflächen.
»Zusammen!« rief N., schmerzverzerrt, und mit aller Kraft warfen sie sich gegen die Tür.
Mit einem ohrenbetäubenden Krachen sprang die Tür auf. Eine Welle heißer Luft stürmte nach draußen und erzeugte einen heftigen Windstoß, der sie beide auf den nassen Asphalt vor der Halle schleuderte. K. und N. landeten hart im Matsch, keuchend und hustend, versuchten verzweifelt, frische Luft zu atmen. Die Kälte fühlte sich auf ihrer Haut beinahe unwirklich an, aber wie eine Erlösung gegenüber dem Inferno, dem sie eben entkommen waren.
Nach einigen langen Momenten des Schweigens rafften sie sich auf, schleppten sich schwankend zurück zu K.s Auto. Sie lehnten sich schwer atmend an die kühle Karosserie, die Stille zwischen ihnen war fast greifbar, nur durch ihr aufgeregtes Hecheln und das entfernte Brüllen der Flammen unterbrochen.
N. war es, der sie schließlich brach.
»Es tut mir leid, dass wir D. nicht erwischt haben … ich war, glaube ich, keine große Hilfe«, sagte er leise. Seine Stimme klang angeschlagen, als hätte ihn das Feuer und die Explosion mehr mitgenommen, als er zeigen wollte.
K. blickte ihn an, ihr Gesicht von Ruß verschmiert und kleinen Kratzern übersät. Doch ein sanftes Lächeln lag auf ihren Lippen.
»N., ich war D. noch nie so bewusst nah wie heute. Du hattest recht – es war ein Sieg. Und du …« Sie hielt inne, wählte ihre Worte mit Bedacht.
»Du warst da. Du hast an mich geglaubt. Du hast mehr getan, als ich je von jemandem erwarten würde. Danke … ehrlich.«
Ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf N.s Gesicht ab und er nickte. Sie standen noch einen Moment so da, beide spürbar angeschlagen, aber am Leben.
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages krochen über den Horizont und tauchten die Stadt in ein sanftes, goldenes Licht. K. und N. hatten nicht einmal bemerkt, dass der Regen aufgehört hatte. Die Welt um sie herum war plötzlich still, als hielte sie den Atem an.
K. blickte zu N. und lachte unerwartet – ein echtes, warmes Lachen, das sie selbst überraschte.
»Beim nächsten Mal werde ich D. kriegen«, sagte sie mit einer Entschlossenheit, die sie lange nicht mehr gespürt hatte. »Und wenn nicht, dann eben beim übernächsten Mal. Ich werde – nein, ich will D. das Handwerk legen.«
N. nickte, ein sanftes Lächeln auf den Lippen.
»Ich weiß, dass du das kannst, K. – allein, wenn es sein muss.« Er hielt kurz inne, bevor er weitersprach. »Aber du musst es nicht allein schaffen. Ich bin hier, wenn du mich brauchst.« Seine Stimme wurde leiser, fast ein Flüstern.
»Für immer.«
Zum ersten Mal wollte K. ihm wirklich glauben. Sie spürte es – seine Worte waren mehr als bloße Versprechen. Sie waren ein Fels in der Brandung, ein unverrückbarer Punkt in ihrer Welt. Sie trat näher, umarmte ihn fest – und mit einem leisen Aufstöhnen zuckten beide vor Schmerz zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde hielten sie den Atem an, doch dann mussten sie beinahe gleichzeitig lachen.
Ein Lachen, das zwischen Erleichterung und Schmerz balancierte, kurz und rau, aber ehrlich. Und in diesem Moment, als sie sich voneinander lösten und sich ansahen, wussten sie beide, dass selbst inmitten all der Narben – körperlich wie seelisch – ein Stückchen Freude Platz finden konnte.
»Wir werden sehen«, sagte sie leise. Dann fügte sie mit einem Lächeln hinzu:
»Aber eines ist klar: Ich werde nicht aufgeben.«
Gemeinsam schauten sie in die aufgehende Sonne, deren Licht die Farben der Stadt langsam zum Leben erweckte. Ihre müden Augen mussten sie zusammenkneifen, doch es störte sie nicht.
»Egal, was passieren wird – es wird gut werden«, sagte K., und in diesem Moment glaubten sie beide daran.
Für einen Augenblick vergaßen sie D. Die Gestalt, die so lange über K.s Leben geherrscht hatte, schien ihren Schrecken verloren zu haben. Sie hatte ihn nicht besiegt, noch nicht, aber er war nicht mehr unangreifbar. Und das war genug.
K. lächelte matt und drückte noch einmal behutsam N.s Hand.
»Lass uns Sushi essen gehen, sobald wir uns beide verarzten lassen haben. Und diesmal zahle ich – keine Widerrede.« Ihre Stimme klang bestimmt, aber auch voller Wärme.
N. lachte leise, wobei ein leichtes Zucken an seine Verletzungen erinnerte, und hob die Hände, als würde er sich ergeben.
»Okay, okay. Keine Widerrede. Aber lass uns wieder diese Masterrolls nehmen, ja?«
Ein kurzes, freudiges Funkeln huschte über K.s erschöpftes Gesicht. Es war seltsam, wie viel Licht und Leichtigkeit in einen Moment passen konnten, wenn man ihn mit der richtigen Person teilte.
K. warf einen letzten Blick zurück auf die Szenerie – das brennende Lagerhaus, die Rauchschwaden, die sich gegen den Himmel hoben. Die Sirenen der nahenden Feuerwehr drangen an ihr Ohr, aber sie wusste, dass sie nichts mehr für das Gebäude tun konnte. Trotzdem war heute ein Wendepunkt. Sicher, sie würde wieder hinfallen, scheitern vielleicht. Aber sie würde auch wieder aufstehen, sich den Staub abklopfen und weitermachen. Denn sie wusste jetzt: Scheitern war nicht das Ende. Es war ein Teil des Lebens.
Mit einem Lächeln stiegen die beiden Freunde in das Auto. Der Motor brummte, und sie fuhren der aufgehenden Sonne entgegen, hinein in eine Stadt, die mit jedem Kilometer farbenfroher wurde.