Der Turm

Ein mysteriöser schwarzer Turm erscheint eines Tages inmitten der Stadt – lautlos und doch mit zerstörerischer Kraft. Niemand weiß, woher er kommt oder was er ist. Doch dann beginnt der Turm zu sprechen und verführt die Menschen mit Versprechungen von Glück und Erlösung.

Niemand wusste, wo er herkam, doch eines Tages war er einfach da. Er kam mit einer Feuersbrunst und doch vollkommen lautlos, so als wäre er in absoluter Stille geboren. Nur das Bersten des Stahlbetons der Häuser, die er unter sich zerdrückte, war in der Stadt zu hören und verstummte so schnell, wie es gekommen war. Es war 4:23 Uhr, um genau zu sein. Niemand wusste, was er war oder wo auch immer er herkam. Doch er war da. Der Turm war einfach da. Er stand inmitten der Stadt und strahlte ein schwaches Leuchten aus – und doch war er in komplette Schwärze gehüllt. Kein Licht kam von innen, keine Fenster zierten den Turm, nur eine glatte, schwarze Oberfläche stand in Stille da. Es wirkte so, als wäre er schon immer da gewesen, und doch auch so, als wäre er nicht wirklich da.

Jegliche Kommunikation brach in sich zusammen. Das Militär rückte aus – und kam nie wieder zurück. Jede Aggression wurde beantwortet und mündete in der Vernichtung des Aggressors, doch niemand wusste, wie. Doch wenn man sich dem Turm friedlich näherte, passierte nichts. Er blieb einfach stumm, und man konnte ihn sogar berühren. Seine Außenhaut war eiskalt und absolut glatt.

Nach ein paar Tagen fing der Turm an, sich zu verändern. Das Leuchten erlosch und wich einer Dunkelheit, die alles Licht um ihn herum aufzusaugen schien. Dann begann er zu senden. Botschaften, die für die Bewohner der Stadt gedacht waren. Botschaften von Hoffnung und Freiheit. Er versprach den Leuten ein besseres Leben. Er versprach ihnen Reichtum und Glück. Er versprach, all den Schmerz der Welt in sich aufzusaugen. Man musste ihn nur annehmen und zu ihm kommen. Viele gingen. Niemand kam je zurück. Was mit ihnen passierte, war nicht klar.

Mein Name ist Lawi, und ich hatte seit Tagen niemanden mehr auf den Straßen gesehen – absolut niemanden mehr. Die Stadt schien wie tot zu sein. Die Wracks der Autos standen wie stumme Zeugen einer Zeit, die scheinbar längst vergangen war und die alten toten Schiffe lagen unbemannt und vor sich hin rostend am Hafen. Selbst die Wellen schienen in Stille zu verharren. Nur die Botschaften des Turms waren noch zu hören. Vielleicht war ich die letzte Person in dieser Stadt, vielleicht sogar die letzte auf diesem Planeten.

Ich streifte durch die Stadt auf der Suche nach etwas zu essen, als sich etwas veränderte. Zunächst nahm ich es gar nicht richtig wahr, doch dann merkte ich es. Der Turm sprach zu mir. Direkt zu mir. Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich seit Wochen isoliert war und keinen anderen mehr gesehen hatte oder ob das Essen vielleicht schlecht geworden war, aber der Turm sprach mit mir. Der Turm lud mich ein und versprach mir, dass ich jemanden wiedersehen konnte, jemanden, der mir genommen worden war.

Ich fragte mich immer wieder, warum ich bis jetzt noch nicht gegangen war? Doch der Turm bot mir nichts an, was ich haben wollte. Glück? So etwas gab es nicht einfach so. Reichtum? Niemand war reicher als die Person, die alles verloren hatte. Freiheit? Andere Ketten von anderen Schmieden bleiben Ketten. Hoffnung? Ich war vielleicht nicht besonders schlau, aber eines wusste ich ziemlich genau, dass die Hoffnung sicher nicht in diesem dunklen Turm lag.

Aber nun bot mir dieser Turm etwas an, das ich niemals in dieser Welt haben konnte. Eine zweite Chance. Ich schüttelte den Kopf. So etwas wie zweite Chancen gab es nicht. Niemals. Egal, wie mächtig dieser Turm auch sein mochte – wenn er überhaupt mehr als ein unglaublich lautes, stilles Etwas war –, so wusste ich sicher, dass niemand die Realität verändern konnte.

Oder doch?

Nein. Nichts konnte die Realität verändern. Nichts konnte ungeschehen machen, was passiert war. Keine Magie der Geschichte konnte auch nur einen Funken von dem bringen, was mir der Turm versprach.

Aber was wäre, wenn ich mich irrte? Wie konnte ich die Möglichkeit aufgeben, das wiederzufinden, was nicht mehr zu finden war? Wie konnte ich auch nur daran denken, es nicht zu tun? Alles, was ich tun musste …

Nein. Ich atmete tief durch. Es durfte nicht sein, was nicht sein konnte. Ich würde nicht zu diesem Turm gehen. Auf gar keinen Fall.

Doch die Botschaften veränderten sich weiter und huschten in meine Träume. Ich sah all das, was passiert war, und dann sah ich, wie alles rückgängig gemacht wurde. Ich konnte wieder ihre grünen Augen sehen – lebendig. Ich sah ihr Lächeln – ein Funkeln. Sie war wieder da – bei mir.

Dann wachte ich schweißgebadet auf, und der Turm schrie lautlos ihren Namen. Wie konnte er all das wissen? Wie konnte er in meinen Träumen sein – wie konnte er meine Gedanken lesen? Was, wenn das keine Träume waren, sondern das, was der Turm vollbringen konnte? Was, wenn dies eigentlich die Zukunft war? Ich schaute aus dem Fenster und sah, dass der Turm sich verändert hatte. Die Umgebung um den Turm herum wurde von Tag zu Tag dunkler. Die Wolken waren in der Stille verweht, denn die Finsternis brauchte sie nicht mehr. Das Licht selbst hatte mich schon viel früher verlassen, und nun verließ das Licht die Welt.

Ich wanderte durch die Stadt, ziellos und ungeplant umher, und doch wurde ich von etwas angezogen. Zunächst dachte ich, der Turm wollte mich in eine Falle locken, doch ich verstand, dass der Turm mir etwas zeigen wollte. Etwas, das ich vergessen hatte. Etwas aus meiner Kindheit – etwas, mit dem man Kinder trösten wollte. Es war eine alte Kindergeschichte darüber, dass der Tod nicht ewig ist, sondern nur eine Form des Lebens, die wir noch nicht begriffen hatten. Ich legte das Buch weg und sagte lautlos Nein.

Ein lautes Dröhnen hallte durch die Stadt. Als die Druckwelle mich erreichte, barsten die Fenster um mich herum und zersplitterten in viele tausend Scherben. In den tausend Scherben spiegelte sich mein Abbild tausendfach und ich sah wie müde ich eigentlich schon aussah. Ich stand reglos da und widerstand dem Reflex, aufzugeben und mich hinzuwerfen. Die vielen tausend kleinen Schnittwunden an meinen Armen waren stumme Zeugen meines Widerstandes, und doch fühlte ich noch immer diese Versuchung in mir. Eine Chance. Antworten.

Mehr wollte ich nie, und selbst das zu hoffen, hatte mich in unzähligen Therapiestunden dazu gebracht, zu weinen. Mehr als das wollte ich nie. Antworten.

Doch dann roch ich etwas. Mein Gehirn konnte es zunächst nicht verarbeiten, und doch war es da. Doch dann hämmerte es in meinem Gehirn wie ein sanfter Schmerz. Ich roch sie. Dann blickte ich mich um, und ich sah ihr Lächeln - ihr Funkeln. Sie stand einfach da, auf der Kreuzung, in einem ihrer bunten, leuchtenden Kleider, das sich von dem Grau der Stadt noch mehr abhob, als sie es je für möglich gehalten hätte. Ich rannte zu ihr und wollte sie umarmen. Doch dann war sie verschwunden.

Sie rief nach mir. Sie rief meinen Namen.

Lawi.
Lawi.
Lawi?

Ich schluchzte bitterlich. »Ich bin doch hier«, sagte ihre sanfte Stimme. Ich versuchte, ihre Stimme auszumachen, und merkte, dass sie aus Richtung des Turms kam. »Ich kann nicht!«, schrie ich so laut ich konnte und fiel auf die Knie.

Doch dann veränderte sich etwas in ihrer sanften Stimme. Sie wurde fordernd. Sie wurde lauter.

Lawi.
Lawi!
LAWI!

Ich stand wieder auf und schaute direkt zum Turm. Mir rannen die Tränen, und mit allerletzter Kraft schrie ich: »NEIN!«

Ein Beben durchzog die Stadt. Oder bebte in Wahrheit nur ich? Nein. Die ganze Stadt bebte, und der Boden riss vor mir auf. Ich machte einen Schritt zurück, um mich besser halten zu können, verlor dann aber das Gleichgewicht. Ich schlug hart auf der Straße auf und spürte die Kälte des Asphalts unter mir.

So lag ich da und schloss die Augen. Ich fühlte, wie meine Tränen meine Wange hinunterrollten und sie leicht kitzelten. Sie kitzelten mich so sehr, dass ich schmunzeln musste. Bin ich tot?

Ich atmete.
Ich atmete.
Ich atmete – verdammt.

Doch dann war da eine andere Stimme. Nein, keine andere. Es war ihre Stimme. Doch leiser. Sanfter, bunter und voller Licht.

»Lawi. Geh nicht. Ich bin hier. Ich bin bei dir. Ich war es immer, Lawi – in deinem Herzen.«

© 2025 Thees Fnordberg. Alle Rechte vorbehalten. Wenn dir meine Texte gefallen, freue ich mich, wenn du sie teilst – bitte mit Nennung meines Namens und einem Link zu meinem Blog. Für jede weitere Nutzung oder Veröffentlichung kontaktiere mich bitte vorher.