Heimat
Die nachtschattenfarbenen, leblosen Kolosse schoben sich langsam und unaufhaltsam durch die absolute Stille der unendlichen Schwärze des Alls. Nur das Verschwinden der Sterne hinter ihnen ließ ihre Umrisse erahnen. Selbst das helle, gelbliche Licht des nahen M-Klasse-Sterns wurde von den lichtverschlingenden Rümpfen der Giganten verschluckt. So vollkommen mit dem All verschmolzen, schien die schwarze Flottille seit Anbeginn der Zeit durch die unermessliche Weite zu gleiten. Nur das kalte, blaue Glimmen der unermüdlichen Antriebe war aus der Ferne erkennbar – doch inmitten des endlosen Sternenmeeres wirkten selbst diese Lichter wie kleine, unbedeutende Punkte im Gefüge des Seins.
Die stummen Hüter glitten lautlos durch die endlose Schwärze, während ihre Herzen in einsamer Gleichförmigkeit schlugen. Im Inneren der gewaltigen, bauchigen Rümpfe trieben kleine, schutzlose Körper schwerelos durch die endlosen Adern und Arterien der Schiffe. Abgeschottet von der unendlichen Weite, kannten die Bewohner nur die ewige monotone Dämmerung ihres metallenen Universums. Denn das dumpfe, künstliche Licht der Kolosse war in all der Zeit nie nach außen gedrungen. Ebenso wenig hatte je ein Strahl der Unendlichkeit ins Innere dieser stummen Hüter gefunden.
Durch die unendlich verzweigten Adern der Schiffe floss Luft, die unzählige Male die gewaltigen Umwälzungsmaschinen durchströmt hatte. Ihre Moleküle hatten jede Erinnerung an Frische verloren. Das Wasser, lebensnotwendig für die bleichen und gebrechlichen Bewohner, war so oft durch den Kreislauf des Daseins geflossen, dass es selbst vergessen hatte, einst nicht Teil dieser metallenen Kolosse gewesen zu sein.
So trieben die Schiffe und ihre schutzlosen Bewohner durch die unermessliche schwarze Stille – auf einem endlosen Kurs, der sie zu ihrem ersehnten Ziel führen sollte. Die vereinte, uralte Sensorik der Flottille sammelte unablässig Informationen über das endlose All; über jedes Geheimnis, das sich in den Tiefen ihrer ewigen Reise offenbarte – stets wachsam, immer suchend.
Eine der unzähligen trivialen Informationen durchwanderte die Lebensadern der Schiffe und entfachte unerwartet einen kleinen, aber bedeutsamen Funken tief in einem stillgelegten System. Der Funke setzte sich in Bewegung, floss durch die endlosen Leiterbahnen und passierte uralte Sicherungssysteme, die längst totgeglaubt und vergessen waren. Die alten Systeme erwachten und prüften diesen neuen, fremden Impuls, bewerteten ihn mit äußerster Sorgfalt. So entfachte der helle Funke eine nie zuvor gesehene Aktivität tief im Inneren der Systeme und durchbrach die dunkle Monotonie. Totgeglaubte Maschinerien begannen sich zu regen, erst zögerlich, dann immer schneller. Fremdartige Vibrationen und Geräusche hallten durch die Schiffe – Klänge, die die Bewohner nie zuvor vernommen hatten. Die neu erwachte Energie erfasste die Gesamtheit der Schiffe, und die antiken Systeme fingen plötzlich an vor Leben zu pulsieren.
Das Feuer sprang über; immer mehr Systeme entflammten und nahmen ihre emsige Arbeit auf. Sie überprüften und bewerteten die erhaltenen Informationen, leiteten sie weiter und nährten das wachsende Informationsfeuer. Schließlich erreichte das Feuer die Herzen der Schiffe und ließ vergessene, verstaubte Bildschirme aufleuchten, die nun längst verlorene Symbole und Daten zeigten.
So schnell und geräuschvoll, wie die Maschinerie erwacht war, so schnell verstummte sie wieder. Eine erneute, unheimliche Stille breitete sich über die Flotte aus, und es schien fast, als hätte sich nichts verändert. Doch die Wahrheit war, dass sich nun alles verändert hatte. Auf den Bildschirmen im Herzen der Kolosse erschien ein einziges Wort: „Gefunden“. Kalte, müde Augen erblickten dieses Wort, kaum in der Lage, dessen Bedeutung zu erfassen oder zu begreifen, dass alles Bekannte für die Bewohner enden und eine neue, unbekannte – in jedem Fall bessere – Zeit anbrechen würde. Das, wonach sich die kleinen Gestalten so lange gesehnt hatten, war nun eingetroffen.
Weitere alte Bildschirme erwachten zum Leben. Nach all den Jahren, in denen sie stumm und dunkel geblieben waren, leuchteten sie plötzlich auf und tauchten den Raum in ein unheimlich schönes, blaues Schimmern. Eine Welt – neu, unberührt und von einer fremdartigen Schönheit – erschien vor ihren Augen. Die Bewohner blinzelten, das grelle Licht brannte, doch sie konnten nicht wegsehen. Es war, als würde diese Welt sie rufen, jede Farbe und Bewegung ein Versprechen. Sie spürten ein Ziehen in der Brust, ein Kribbeln aus Hoffnung und Unglauben. Endlich war sie da. Ihre lange Suche war zu Ende.
Nun leiteten sie die Prozeduren ein, die seit unzähligen Generationen beinahe religiös weitergegeben und niemals vergessen werden durften.
Die gewaltigen Maschinen im Inneren der Schiffe, die gerade erst verstummt waren, flammten erneut auf – heftiger als je zuvor. Eine bisher unbekannte Energie durchströmte plötzlich die gesamte Flotte. Uralte Maschinen erwachten und nahmen ihren lange vorherbestimmten Betrieb auf. Jede bisherige Iteration der Stille war vollends verflogen, als hätte sie nie existiert. Neue, lautere Geräusche hallten durch die Rümpfe – Klänge, die kein Ohr je zuvor vernommen hatte, seltsam und vielfältig. Nun wurden alle Systeme aus ihrem tiefen Schlaf gerissen, bereit, endlich die Aufgabe zu erfüllen, für die sie erschaffen worden waren.
Dann geriet die Maschinerie ins Stocken, und die Geräusche verstummten erneut. Ein gewaltiges, beängstigendes Zittern durchzog die Schiffe, und die farblosen, perfekten Rümpfe der Armada brachen auf. Zum ersten Mal seit Anbeginn der kollektiven Erinnerung der Flotte drang das dumpfe Licht des Inneren hinaus in die Schwärze des verschlingenden Alls. Abertausende kleiner, schwarzer Objekte schwärmten aus den Bäuchen der Flotte und ergossen sich über die schutzlose Welt, die unter ihnen lag.
Ein neuer Tag brach auf der unberührten, blauen Welt an. Die ersten Lichtstrahlen des heimischen Sterns glitzerten im Raureif der abebbenden Nacht, streckten sich über die sanften Hügel und wärmten das Leben, das sich nun für den Tag bereit machte. Die blattähnlichen Konstrukte der fremden Flora schaukelten leise im Wind, ein ruhiger Takt, der die Stille sanft durchbrach. Kleine, flinke Wesen huschten durch die Schatten, in ihrem ewigen Rhythmus der Nahrungssuche gefangen.
Hohe, weiße Stratocumuli schwebten träge über das atemberaubende Blau des Himmels. Nichts deutete darauf hin, dass dieser Tag nicht wie jeder andere enden würde – und doch schien eine unsichtbare Schwere die Luft zu verdichten, ein kaum wahrnehmbares Knistern, das in der stillen Erwartung lag.
Doch dann begann sich der Himmel zu verfinstern, und die kleinen Wesen schreckten auf, als unzählige, ohrenbetäubende Überschallknalle die unberührte Welt erschütterten und die tiefe Stille zerrissen. Der blaue Himmel, eben noch friedlich und weit, war plötzlich übersät mit dunklen, makellos geformten, metallischen Zylindern, die wie brachiale Speere durch die unperfekte Wolkendecke stachen. Für einen kurzen, angespannten Moment schien die Welt den Atem anzuhalten, als würde die Stille zurückkehren – doch dann prallten die schwarzen Zylinder unnachgiebig auf den Boden. Das gewaltige Beben, das ihr Einschlag auslöste, breitete sich wie eine Schockwelle über den gesamten Planeten aus.
Die nachtschwarzen Zylinder öffneten sich zischend, und bleiche, schwache Gestalten mit schwarzen Exoskeletten stiegen wie aus metallenen Sarkophagen und setzten zögernd ihre ersten Schritte auf der neuen Welt. Schwarze, surrende Flugkugeln schossen hervor und breiteten sich über die Welt aus. Ein fast lautloser Schwarm, der begann, die fremde Umgebung zu kartieren und zu überwachen.
Die leeren, starren Augen der Fremdlinge wanderten umher und glitten über die fremdartige Landschaft. Die unermessliche Weite dieser Welt bedrängte sie mit einer unerwarteten Furcht, und die schier unerbittliche Schwerkraft von beinahe einem g drückte sie unnachgiebig zu Boden. Es war nur die starre Struktur ihrer dunklen Exoskelette, die ihre zerbrechlichen Körper noch aufrecht hielt. Hier, in dieser überwältigenden Weite, wirkten sie wie Schatten, die fehl am Platz waren, als gehörten sie nicht in diese neue Welt.
Die frische, unverbrauchte Kälte der Luft füllte die zerbrechlichen Lungen der Besatzer. Kaum in der Lage, die vielen unterschiedlichen, nicht metallischen und nicht öligen Gerüche wahrzunehmen, wurde vielen von ihnen auf seltsame Weise übel. Das Licht des strahlenden Sterns blendete ihre Augen, die nur das dumpfe Leuchten der Flotte kannten. Die farbenfrohe Welt, die sich ihnen darbot, schien ihnen fremd und widerwärtig; sie konnten sie nur mit Verachtung betrachten. Ihre Blicke wanderten hinauf, dorthin, wo ihre Flotte wartete, um nach und nach abgebaut zu werden, damit sie diese neue Welt sich Untertan machen konnten. Doch in ihren kalten Augen glitzerten Tränen – nicht Tränen der Anstrengung oder gar Freunde, sondern der Sehnsucht. Ein fremdes, unverständliches Gefühl für diese Wesen.
Sie schauten empor und erkannten, dass ihre wahre Heimat dort oben am Sternenhimmel war. Sie hatten sie verlassen, um einen Traum zu leben – einen Traum, den keiner von ihnen je geträumt hatte. Es war der Traum ihrer vergessenen Vorfahren, niemals der ihre. Sie brauchten keine neue Heimat. Ihre wahre Heimat hatten sie längst gefunden. Vor langer Zeit. Sie hätten sie nie verlassen dürfen.
Die seltsamen, nur von ihren Exoskeletten gestützten Wesen warfen diesem abscheulichen Planeten keinen Blick mehr zu. Wortlos kehrten sie in ihre schwarzen, finsteren Zylinder zurück und verschmolzen mit ihnen, als wären sie nie hier gewesen. Fast gleichzeitig schossen Abertausende Feuersäulen gen Himmel, eine letzte Spur ihrer Anwesenheit, die im Leuchten des Sternenzelts schnell verblasste. Diese Fremdkörper hatten hier nie hingehört. So verschwand das dunkle Schwarz aus dieser Welt, und die Zylinder vereinten sich wieder mit den Rümpfen ihrer Heimat im All. Die gewaltigen Bäuche der Schiffe schlossen sich ein letztes Mal, beschützten ihre kostbare, verlorene Fracht – diesmal jedoch für alle Ewigkeit. Kein Licht würde je wieder nach außen dringen, und kein Lichtstrahl würde je mehr das Innere erreichen.
Ein gewaltiger Ruck durchfuhr die Schiffe, als die unendlichen Antriebe ihren zeitlosen Betrieb wieder aufnahmen. Das kalte, blaue Feuer der schwarzen Flottille entflammte erneut, doch diesmal sollte es für immer brennen. In den verzweigten Adern der Schiffe zogen die Bewohner die abgestandene Luft ein, ein vertrauter Hauch, der ihnen Trost in der Enge ihres Seins schenkte. Die nachtschattenfarbenen, leblosen Schiffe schoben sich langsam und unaufhaltsam durch die dritte Stille der unendlichen Schwärze des Alls.