Schneereh
Eine Wanderung durch eine endlose Schneelandschaft, eingehüllt in absolute Stille. Gedanken verschwinden, Zeit verliert ihre Bedeutung – bis sich etwas verändert und ein unerwartetes Wunder erscheint.
Du siehst vor dir eine gigantische weiße Ebene aus purem, unschuldigem Weiß. Deine neugierigen Augen suchen vergeblich nach einem Fixpunkt in dieser Unendlichkeit des Schnees. Doch du findest keinen. Du beobachtest deinen Atem wie er vor dir in der Luft kondensiert, aufsteigt und ganz langsam absinkt, als er kälter wird. Du atmest tief ein und aus und beginnst deine Wanderung ins Nichts. Die ersten Schritt in den Schnee sind sanft, das leise Knacken unter deinen Stiefeln ist das einzige Zeichen deiner Existenz. Doch als du kurz innehältst, spürst du, dass etwas fehlt - etwas so Selbstverständliches, das nur auffällt, wenn es nicht mehr da ist. Du hörst absolute Stille. Nichts dringt zu dir vor, nichts erzeugt auch nur das leistete Geräusch.
»Das muss sie sein …«, denkst du dir, »… das muss die dritte Stille sein, jene, die sich hinter allem verbirgt«.
Erst jetzt wird dir bewusst, wie vollkommen allein du bist. Anders als bei deinen anderen Abenteuern gibt es hier niemanden außer dir in dieser endlosen Schneelandschaft. Du bist das einzige störende Objekt in diesem weißen Wunder, und doch stört sich nichts an deiner Gegenwart. Du bist einfach du - ein Paradox in sich selbst, das in dieser Stille vollkommen natürlich erscheint. So als würdest du hier hingehören und doch kein Teil davon sein.
So gehst du weiter, und deine Gedanken beginnen um sich selbst zu drehen. Dein Gehirn sucht verzweifelt nach etwas, woran es sich festhalten kann, irgendetwas, doch es findet nichts außer dem absoluten Weiß. Deine Augen schweifen rastlos über diese Wüste aus endlosem, unberührtem Schnee, aber es gibt nichts zu entdecken - nichts außer dem Nichts selbst. Atemzug um Atemzug, Schritt für Schritt gehst du weiter, beginnst deine Schritte zu zählen, um deinem Verstand einen Anker zu geben. Bei eintausenddreihundertundrei verschwimmen die Zahlen langsam, und deine Gedanken verfangen sich in der Stille. Sie werden leiser und leiser, bis sie nur noch ein Flüstern sind – nein, weniger als das, nur ein lautloses Hauchen.
Doch dann plötzlich scheint ein Gedanke lauter als alle anderen zu sein, ein Gedanke, der ruft und dennoch still ist. Du bleibst stehen, betrachtest ihn, drehst ihn hin und her, versuchst zu verstehen, was er bedeutet: Einfach nur sein. Der Gedanke fühlt sich weder falsch noch richtig an. Er ist einfach... da... er ist einfach nur. Er beschreibt präzise, was ist. Einfach nur sein. Als du ihn vollständig erfasst hast, zieht er vorüber wie eine Wolke am Himmel, verliert er seine überwältigende Nähe und Intensität. Du setzt deinen Weg fort, Atemzug um Atemzug, Schritt für Schritt durch diese Landschaft aus Stille.
Die Zeit hat ihre Bedeutung und Funktion verloren, denn nichts hier erinnert an ihr Vergehen. Das Licht ist gedämpft, als würde die Zeit an diesem Ort ihre Existenz aufgeben - und doch fließt sie weiter, sanft und unaufhaltsam wie dein ruhiger, glücklicher Herzschlag.
Als deine Augen zum tausendsten Mal die Umgebung absuchen, auf der Suche nach etwas anderem als dem Nichts, erblickst du drei Schildkröten im Schnee. Du schüttelst ungläubig den Kopf, doch sie sind noch immer da. Schneeschildkröten. Du zwinkerst einmal, zweimal, dreimal - und sicherheitshalber ein viertes Mal - aber sie schauen dich weiterhin genauso fassungslos an wie du sie. Mit schnelleren Schritten näherst du dich der Stelle, wo die Schildkröten sitzen, doch als du sie erreichst, sind sie verschwunden. Alles, was bleibt, ist Schnee und Eis. Ein Lachen steigt in dir auf, deine ohnehin schon geröteten Wangen werden noch eine Spur röter, und lachend setzt du deinen Weg fort.
Während du gehst, nimmst du etwas wahr. Etwas, das nicht sein sollte und doch ist. In dem Moment, wo du es bemerkst, verschwindet es bereits, und je verzweifelter du danach suchst, desto flüchtiger wird es. Erst als du aufgibst, kehrt es zurück - scheu wie ein zartes unschuldiges Schneereh. Doch kaum streckst du deine Hand danach aus, ist es wieder fort. Du atmest die kristallklare Luft ein und aus, gehst weiter. Dann bemerkst du erneut dieses scheue Wesen am Rand deiner Wahrnehmung, siehst, wie es zu fliehen versucht, und diesmal erkennst du es: absolut gar nichts.
Dir wird bewusst, dass du an absolut gar nichts gedacht hattest. Dein Kopf war vollkommen leer - keine Ängste, keine Sorgen, nicht einmal Freude. Du warst einfach nur im Augenblick versunken. Und in dem Moment, wo du verstehst, dass du nichts gedacht hast, scheint sich dir alles zu erschließen, als hättest du in der Leere eine tiefere Wahrheit gefunden.
So gehst du mit leeren Gedanken durch diese Welt aus Nichts das Alles ist und fühlst dich frei wie nie, ein Gefühl, dass du lange nicht gekannt hast. Als wärst du nun selbst ein Teil dessen, was hier zu sein scheint. Doch obwohl die Zeit stillzustehen scheint, senkt sich langsam die Dunkelheit herab. Die Sonne ermüdet langsam und versinkt hinter dem Horizont aus Weiß. Absolute Schwärze umhüllt dich, und deine Gedanken ringen mit der undurchdringlichen Dunkelheit. Dann bemerkst du etwas - anders als das Schwarz und Grau, das dich umgibt. Etwas... das hier ist, aber hier nicht sein kann. Farbe. Erst nur flüchtig in deinen Augenwinkeln, du denkst, es sei ein weiterer Streich deiner Sinne. Doch als du deinen Blick hebst, stockt dir der Atem. Über dir entfaltet sich ein Farbenspiel, das die Nacht zum Leben erweckt - die Aurora Borealis in ihrer ganzen Pracht.
Mit einem Mal bist du wieder Kind, staunst mit offenem Mund vor dem Fantastischen und Unbeschreiblichen über dir. Du weißt nicht mehr, ob Minuten oder Stunden vergangen sind, während du diesem Wunder zusieht - doch wo die Zeit ihre Bedeutung und Funktion verloren hat, spielt das ohnehin keine Rolle mehr. So stehst du dort, inmitten des Nichts, staunend und lächelnd. Endlich begreifst du, dass du hier, wo du nichts sein musst, alles bist.